Ambrosius Dauerspeck und Mariechen Knusperkorn

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Der Hamster Ambrosius Dauerspeck war in seinen Bau gerutscht, hatte sorgsam die vollen Backentaschen geleert und die kostbare Getreideladung zu den anderen Vorräten verstaut. Fünf große Speicher hatte er kunstgerecht angelegt und alle fünf bis an den Rand mit Getreide, mit Erbsen und Puffbohnen gefüllt. Es war kaum noch etwas unterzubringen, und mühsam stopfte er mit der Tatze die letzte Beute hinein. Den Rest steckte er unter sein Ruhebett aus weichen Halmen. Es kann einem mal flau werden, dachte er, dann hat man stets eine Kleinigkeit bei der Pfote. Es ist auch gut gegen Schlaflosigkeit, dazwischen etwas zu sich zu nehmen, wenn man im Bett liegt. Dann kroch er nochmals in alle Zugangsröhren seiner Speicher und schnupperte befriedigt in jeden einzelnen hinein.

»Es wird reichen, es wird reichen«, murmelte er und rieb sich die weißen Pfoten, »auch wenn es ein harter Winter wird, ich werde nicht sehr abzunehmen brauchen, ich bin versorgt und werde gut im Stande bleiben. Eine schöne Ernte war das dieses Jahr, gar kein Hagel, Regen zur rechten Zeit, Sonne zur rechten Zeit – eine schöne Ernte.«

Ambrosius Dauerspeck hatte recht. Drei Hamster hätten davon satt werden können. Aber er lebte hier allein, Gott sei Dank, ja, ganz allein, und alle Vorräte würde er allein aufessen können.

Er setzte sich auf sein Ruhebett, streckte wohlig die kleinen Glieder und erholte sich ein wenig. Was muß man sich abrackern, um fett zu bleiben, dachte er, wenn die Leute ahnten, wie schwer Fett verdient ist!

Dann begann er eifrig und behutsam den Boden seiner Wohnung mit den Tatzen zu fegen. Es mußte alles sehr sauber sein; denn Ambrosius Dauerspeck war ein ordnungsliebendes Geschöpf.

Plötzlich stutzte er und spitzte die Ohren. Pfiff da nicht jemand draußen, ganz nahe vor dem Bau? Ambrosius Dauerspeck richtete sich auf den Hinterbeinen auf und ließ die Vorderpfoten spaßhaft hängen, eine etwas tiefer als die andere, knurrte tief und hohl und knirschte unsympathisch mit den Zähnen. Solche Störungen konnten ihn unbeschreiblich ärgern. Überhaupt, er ärgerte sich leicht, obwohl er so fett war. Wieder pfiff es, ganz deutlich und in einer ziemlich unverschämten Weise. Ambrosius Dauerspeck schnupperte besorgt in der Luft, lief zum Eingang, fand ihn in Ordnung, lief wieder zurück, kroch die schräge Ausgangsröhre empor und spähte vorsichtig hinaus.

»So eine Frechheit – Mariechen Knusperkorn!« schrie er erbost, »was fällt denn Ihnen ein, meine wirtschaftliche Tätigkeit durch Ihre albernen Gassenhauer zu stören?«

Jenseits des kleinen Baches, auf einem moosbewachsenen Stein, saß die Feldmaus Mariechen Knusperkorn und pfiff.

»Wenn nicht der dumme Bach zwischen uns wäre«, sagte Ambrosius Dauerspeck giftig, »dann würden Sie nicht einen Augenblick mehr zu leben haben. Aber mich ekelt's vor dem Wasser, und meine weißen Handschuhe tun mir leid.«

»Das weiß ich, ach, das weiß ich«, sagte Mariechen Knusperkorn und verbeugte sich mehrfach, »wenn der Bach nicht wäre – es ist ein tiefer Bach, lieber Herr Dauerspeck, ein sehr tiefer Bach – nie hätte ich sonst gewagt, mich so nahe vor die Nase Euer Gnaden zu setzen. Ach, ich arme Maus! Alles verfolgt mich, und man will doch auch leben – ach, ich arme Maus!« klagte sie und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen mit dem Schnauzentuch aus einem Wegerichblatt.

»Das ist kein Grund zum Heulen«, schrie Ambrosius Dauerspeck, »ich habe noch ganz andere Sorgen. Warum setzen Sie sich hierher und pfeifen frivole Melodien? Arbeiten Sie lieber!«

»Frivole Melodien?« jammerte die Maus, »mir ist nicht nach frivolen Melodien zumute, ich kenne auch gar keine, nur einige alte trostreiche Lieder für diese kummervolle Zeit. Ich pfeife bloß aus Hunger, lieber Herr Dauerspeck, aus reinem Hunger – ach, ich arme Maus, ich arme Maus!« Das Schnauzentuch trat erneut in Tätigkeit. Die will noch betteln, dachte Ambrosius Dauerspeck und zog sich unwillkürlich etwas zurück. »Ja, ja, wer hat heute nicht zu klagen? Schlechte Zeiten, schlechte Zeiten«, murmelte er und kratzte sich sorgenvoll den Kopf mit der Tatze.

»Ach, lieber Herr Dauerspeck«, sagte Mariechen Knusperkorn und faltete beweglich die Pfoten, »ich bin so sehr hungrig, der Herbst ist da, und die Felder sind leer. Unterstützen Sie mich und schenken Sie mir ein paar Getreidekörner aus Ihren vollen Speichern!«

»Was?« schrie Ambrosius Dauerspeck wütend, »volle Speicher? Bei mir? Sie sind wohl um Ihr bißchen Mausverstand gekommen, Mariechen Knusperkorn? Ich habe selbst nichts im Hause, nicht ein Korn, nicht eine Erbse, nicht eine einzige Puffbohne. Ich kann den Winter einfach verhungern und an den Pfoten schnullen! Noch nie gab es eine so schlechte Ernte wie dieses Jahr, alles ist verhagelt, alles!«

»Ach, ich arme Maus, ich arme Maus!« klagte Mariechen Knusperkorn.

»Warum haben Sie denn nicht selbst Vorräte gesammelt, Sie törichte Person?« fauchte Ambrosius Dauerspeck sie an.

»Ich kann doch nicht so viel forttragen wie Sie, mein lieber Herr Dauerspeck«, sagte Mariechen Knusperkorn, »ich kann doch nur mühsam eine Kornähre mit den Pfoten fassen, und auf dem Heimweg geht über die Hälfte der Körner verloren. Sie haben doch die schönen Backentaschen, wo so viel hineingeht. Sie haben doch zwei richtige Markttaschen im Gesicht.«

»Schöne Markttaschen«, knurrte Ambrosius Dauerspeck, »das sind keine Markttaschen, mein liebes Mariechen Knusperkorn. Das sind eingefallene Wangen, jawohl, weil ich seit Wochen nichts Kräftiges mehr gegessen habe. Mein ganzes Fell hängt in Falten an mir herunter!« Er strich sich klagend mit der Tatze über den dicken Magen und hüstelte kummervoll in die hohle Pfote.

»Sie sehen gar nicht so mager aus«, sagte Mariechen Knusperkorn, »außerdem sagten Sie doch eben, daß die Ernte verhagelt sei. Wie sollte ich dann Vorräte sammeln?«

»Ach, Unsinn, Mausgeschwätz«, schrie Ambrosius Dauerspeck, »nichts ist verhagelt, es gab noch nie eine so schöne Ernte wie dieses Jahr.«

»Aber dann sind Ihre Speicher doch sicher ganz gefüllt, und Sie könnten mir ein paar armselige Körner schenken, wenn es doch eine so schöne Ernte war.«

»Schöne Ernte«, brummte Ambrosius Dauerspeck, »bei anderen war es eine schöne Ernte, aber nicht bei mir. Auf meinen Feldern ist gar nichts gewachsen. Ein Landwirt hat nie eine schöne Ernte. Wenn das Getreide Sonne braucht, regnet es, und wenn die Puffbohnen Regen brauchen, scheint die Sonne, und sie verdorren. Bei mir ist alles verdorrt, was nicht verregnet ist, und alles verregnet, was nicht verdorrt ist, und was nicht verregnet und nicht verdorrt ist, das ist verhagelt! Machen Sie, daß Sie fortkommen, Mariechen Knusperkorn, bei mir ist nichts zu holen!«

»Ach, ich arme Maus, ich arme Maus!«, klagte Mariechen Knusperkorn und schluchzte beweglich durch die Schnauze. Jeden hätte es erbarmt, nur nicht Ambrosius Dauerspeck, denn bei ihm waren alle solchen Regungen verdorrt, verregnet und verhagelt.

»Übrigens«, sagte er bedenklich und richtete sich mißtrauisch auf den Hinterbeinen auf, die eine Vorderpfote etwas höher als die andere, »es raschelt da so eigentümlich um Sie herum. Sind Sie am Ende nicht allein? Es kommt mir was verdächtig vor bei Ihnen, Mariechen Knusperkorn.«

Die Maus legte beteuernd die Pfote an die Brust. »Ich – ich bin ganz allein«, sagte sie, »wie sollte ich wohl nicht allein sein? Ich habe niemand, der sich um mich kümmert, keine Familie, gar nichts – ach, ich arme Maus, ich arme Maus!«

»Sie haben keine Familie?« sagte Ambrosius Dauerspeck, »das ist doch eine geradezu fellsträubende Behauptung! Sie haben eine so zahlreiche Familie, daß Sie sich selbst nicht mehr durchfinden können. Sie tun doch nichts anderes als sich vermehren, es ist ja scheußlich, nur zuzusehen, wie Sie alle paar Wochen neue Kinder kriegen. Ein anständiges Geschöpf wie ich kriegt seine Kinder im Frühling, und dann ist Schluß – dann zieht man sich auf sich selbst zurück und kümmert sich um seine Wirtschaft. Kein Wunder, daß euch alle fressen, wo ihr euch so vermehrt.«

»Ach, lieber Herr Dauerspeck«, klagte die Feldmaus, »das ist doch bloß Familiensinn, daß wir uns vermehren; denn wenn wir uns nicht so vermehren würden, gäbe es bald keine Mäuse mehr.«

»Das wäre ein großes Glück«, schrie Ambrosius Dauerspeck, »Mäuse schmecken zwar gut, aber sie fressen einem auch das Getreide und die Puffbohnen fort, die ganze schöne Ernte, die nur für die Hamster da ist.«

»Es war doch gar keine schöne Ernte«, meinte Mariechen Knusperkorn, »und außerdem finde ich – es ist eine Taktlosigkeit, jemand zu sagen, daß er gut schmeckt, wenn man sich friedlich mit ihm unterhält. Doch ich will nicht nachtragend sein, und ich will auch nichts geschenkt haben. Wenn Sie mir aber eine Puffbohne geben, sage ich Ihnen, wo noch ein ungemähtes Getreidefeld ist.«

Ambrosius Dauerspeck fuhr ruckartig in die Höhe. »Ist das auch wahr?« fragte er und zog die Nase in mißtrauische Falten. »Es raschelt übrigens schon wieder so sonderbar um Sie herum.«

»Natürlich ist es wahr«, beteuerte Mariechen Knusperkorn, »ich wäre selbst schon lange hingegangen, aber für eine arme schwache Maus ist der Weg zu weit, es ist eine gute Stunde von hier, und das halten meine kleinen Pfoten nicht aus. Darum und aus reiner Nächstenliebe verrate ich Ihnen die kostbare Stelle, bloß für eine Puffbohne, weil ich so hungrig bin.«

»Das hätten Sie auch gleich sagen können, ohne mich so lange aufzuhalten«, meinte Ambrosius Dauerspeck und tauchte in seiner Behausung unter.
Mariechen Knusperkorn pfiff leise durch die Zähne, und um sie herum raschelte es von lauter Mäusen.

Ambrosius Dauerspeck erschien baldigst wieder, mit einer Puffbohne in der Tatze. »Wo ist die Stelle?« fragte er vorsichtig.

Mariechen Knusperkorn wies mit der Pfote den Weg. »Hier links hinunter, immer am Bach entlang, immer gerade weiter, dann rechts, dann gerade, dann wieder links, dann rechts, dann links – wo die vielen Birken stehen, dort ist das Feld, lauter dicke schwere Körner. Aber Sie müssen immer links vom Bache bleiben, ja nicht rechts, wo die Brücke von Steinen ist, die auf meine Seite über den Bach hinüberführt, das wäre eine ganz falsche Richtung, in der Sie nur in die Irre gehen. Kehren Sie auch nicht zu zeitig um, eine gute Stunde müssen Sie schon auf den Weg rechnen.«

Ambrosius Dauerspeck warf Mariechen Knusperkorn die versprochene Puffbohne zu. »Ich werde das Feld schon finden – es raschelt aber doch wieder so sonderbar um Sie herum«, murmelte er und verschwand im Dickicht.

Bald darauf setzten unzählige Mäuse der Familie Knusperkorn auf der Brücke von Steinen über den Bach und eilten in Ambrosius Dauerspecks fünf gefüllte Speicher. Fast eine Stunde brauchten sie, um ihre Beute fortzuschleppen. Nur wenig blieb verstreut am Boden liegen. »Eine schöne Ernte war das dieses Jahr«, sagte Mariechen Knusperkorn, »gar kein Hagel, Regen zur rechten Zeit, Sonne zur rechten Zeit – eine schöne Ernte.«

Ambrosius Dauerspeck gebrauchte diesen Winter eine unfreiwillige Entfettungskur, die ihm gesundheitlich vorzüglich bekam, aber seine Gesinnung ganz verdarb. Denn er hatte seitdem nur noch den einen Gedanken, Mariechen Knusperkorn aufzufressen. Doch Mariechen Knusperkorn war umgezogen – unbekannt wohin.

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Auch von Manfred Kyber